Die TANGO Story, Teil 00+01

Wholefood croissants at Wrenwick's Café

Cambridge 1980. Auf dem Weg zwischen dem Christ's College und meiner Studentenbude liegt Wrenwicks Café, das einzig vernünftige Café in ganz Cambridge. Mit dänischen Kiefermöbeln im Ikea-Stil ist es hell und im Vergleich zu anderen englischen Etablissements direkt einladend eingerichtet. An einer Selbstbedienungstheke findet man unter diversen Backwaren sogar Croissants - aus Vollkornmehl zwar, aber trotzdem fettig und lecker. Der Kaffee ist wirklich ordentlich und die angelsächsische Sitte des 'Refill', also des kostenlosen Widerauffüllens der Tasse hat hier aus gutem Grund begeisterte Anhänger.

Mehr oder weniger aus Versehen, eigentlich als Lückenbüsser, bin ich in diesen Studentenaustausch hineingeraten und langweile mich so vor mich hin. An den Colleges herrscht die gespannte Ruhe der Vorexamenszeit, Vorlesungen gibt es keine zu hören, bald werden die ' Bump Races ' und die Maibälle folgen und dann wird Cambridge verlassen und öde vor sich hin schnarchen, bis die Studenten nach der Sommerzeit wiederkehren.

Die Cam ist ein kleines und meist grünes, fast stehendes Gewässer, keine 10 Meter breit und, wie schon gesagt, nahezu bewegungslos. Im Wonnemonat Mai, wenn sich die gesellschaftlichen Ereignisse in Cambridge überschlagen, finden hier die ebenso ehrwürdigen wie jährlich wiederkehrenden 'Bump Races' statt. Jeweils sechs Ruderboote, natürlich Achter mit Steuermann, liegen mit je einer Bootslänge Abstand am Ufer, Volk säumt die Pappelbestandenen Wiesen entlang des Rennkurses, die Picknickkörbe geben ihr Bestes (und das ist nicht eben viel, aber dafür enorm bunt) und man wartet geduldig auf den nächsten Start. Kaum sind die Boote in Fahrt, versuchen die hinten Fahrenden die vor ihnen Rudernden zu rammen. Gelingt es ihnen, dann werden diese Boote im nächsten Jahr den Startplatz tauschen. Das vorderste Boot darf nächstes Jahr dann eine Klasse höher als letztes, das letzte Boot dagegen ein Klasse tiefer als erstes starten - und es gibt sechs Klassen! Es dauert also mehr als eine Generation, bis sich, rein rechnerisch, ein Boot von ganz unten nach ganz oben durchge'bumpt' hat - die Langlebigkeit englischer Traditionen hat wohl in solchen Regeln ihre Quelle.

'Mein' College hat drei Boote im Rennen: Christs ONE in der ersten Klasse, Christs TWO in der zweiten und dann noch die Verlierer in der sechsten Klasse. Alle tragen diese wunderbaren, dunkelblauen Sweatshirts, die ihrem Namen heute alle Ehre machen, denn es ist schon richtig warm. Und die zwei gekreuzten Ruder unter dem Wappen des Christs College, dazu das stolz-lapidare ONE oder TWO erfüllen mein Herz mit in Deutschland immer unterdrückten Gefühlen der Zugehörigkeit, hier endlich darf ich's sein, sentimental und lokalpatriotisch - bis dann die Jungs aus der letzten Klasse den Boden der Tatsachen, die Dinge des Lebens, die kosmische Wahrheit unerhört präzise mit nur zwei Worten auf den Punkt bringen:

«More Pain» lautet der Aufdruck auf ihren Sweatern und ich werde erst ein Dutzend Jahre später verstehen, was wirklich damit gemeint ist.

Steak & Kidney Pie - Fleisch und Nierenstückchen in einer dunkelbraunen Pampe, umhüllt von staubigstem Mürbteig - ist nun wirklich nicht gerade die Traum-Mittagsmahlzeit, schon gar nicht, wenn man sie auf hartem, dunklem Holzgestühl (oh Sparta!) und im Antlitz unzähliger, überlebensgroßer Porträts ehrwürdiger, misanthropischer Herrschaften verdrücken soll - und so sitze ich mehr bei Wrenwicks, als mich im College aufzuhalten - wenn ich nicht gerade in den berühmten Cavendish Laboratries meinen kindlichen Spielereien nachgehe. Immerhin bin ich als Physikstudent im achten Semester hier, leider habe ich die Uni seit dem dritten Semester nicht mehr gesehen, sondern stattdessen 'in Umweltschutz' gemacht und gegen AKW's protestiert.

Im 'Cavendish' habe ich einen riesigen Experimentiersaal ganz für mich allein. Als ich versuchshalber einen der Schränke öffne, quellen mir hübsche, handliche Tischlaserkanonen in rauhen Mengen entgegen, also spiele ich die nächsten Wochen nach Herzenslust mit Laserstrahlen und versuche mit ihrer Hilfe zu beweisen, daß man mit dem Daumen eine 10 cm dicke Marmorplatte meßbar durchbiegen kann (das geht, interessiert aber keinen).

Oder ich sitze eben bei Wrenwicks, gut versteckt hinter meinem vollen Rauschebart - den ich noch aus Neuseeland zum Zwecke der Selbstfindung mitgebracht habe - und der guten, alten 'Times'.

Die beiden, die da etwas zögerlich auf meinen Tisch zustreben, sehen nicht gerade wie Einheimische aus, aber auch nicht wie Pauschaltouristen, ah ja: als 'sie' höflich fragt, ob die Plätze noch frei seien, kann ich den Akzent gut ausmachen, und nicke nur, um mich nicht zu verraten. Und natürlich fangen sie gleich auf Deutsch an zu schnattern, meine Tarnung scheint noch zu halten, und nur mühsam kann ich, hinter meiner Times verborgen, vermeiden, laut herauszulachen. Und so lerne ich Mario Domig kennen. Mario ist ein Jahr älter als ich, studiert Gesang, verdient seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren und gelegentlich sieht man ihn auch in Anzeigen für Lebensversicherungen oder neue Brillenmodelle. Daß er seine Lehre als Einzelhandelskaufmann später noch einmal gut würde gebrauchen können, hätte ihm damals sicher nur ein charmant-ungläubiges Lächeln entlockt.

Ich bin 25 und seit einem dreiviertel Jahr im englischsprachigen Ausland. Wenn ich nach Hause komme habe ich keine Wohnung, keine Freundin, keinen Job und kaum eine Perspektive - denn die Physik werde ich sicherlich aufgeben und Computer sind noch immer nur der Orwellsche 'Große Bruder' für mich.

12 Jahre später zeigt ein Foto Mario und mich auf unserem Stand auf der Frankfurter Buchmesse, umringt von Buchhändlern. Dazwischen liegt ein Meer von Zufällen und Begegnungen, deren erste unser Frühstück bei Wrenwicks war. Eine halbe Stunde Differenz vielleicht und TANGO wäre eine der Abermillionen nie realisierter Möglichkeiten geblieben, eine halbe Stunde und ein vollbesetztes Cafe in Cambridge ....

No home No hope No future

Heidelberg, immer noch 1980.

Auf den guten Rat eines Freundes hin - 'Du solltest Soziologie studieren'. 'Wie schreibt man das?' - habe ich mich durch das Gewirr eines pseudomodernen Betonlabyrinths zum Institut für Soziologie durchgekämpft. Die einzig unverschlossene Tür in dieser vorlesungsfreien Zeit ist die Tür zum Sekretariat - und die steht weit offen. Die breite Fensterfront der Dachgaube gibt den Blick auf rotgeziegelte Altstadtdächer frei. Die vielen Grünpflanzen lassen vergessen, daß man sich in einem Büro befindet. Eine freundliche Frau in den Vierzigern unterbricht ihr Gespräch mit einem krausköpfigen Intellektuellen, der sich, auf dem Heizugskörper am Fenster hingeflaetzt an seinem Kaffeetopf festhält, um mich nach meinem Begehr zu fragen. 'Und - haben Sie schon mal etwas vorher studiert'? fragt sie weiter. Ich stammle: 'Ja, acht Semester Physik, aber ohne Abschluß'. Sie lacht und meint: 'Ja, die abgebrochenen Physiker, davon haben wir mehr hier'. Und nimmt erstmal wieder einen Schluck Kaffee, da sich jetzt der Assistent auf der Heizung mit einem ironischen Kommentar über den Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Studienfach einmischt. In dieser Sekunde beschließe ich, daß es mir hier gefällt - und das bißchen Soziologie werde ich schon auch noch lernen. Ein leiser Hoffnungsschimmer glimmt auf, zumindest, was die berufliche Zukunft angeht.

Anfang September dann klingelt das Telefon und ich bekomme einen Wohnungstip: Altstadt, Fischergasse, 30 Meter vom Neckar und der alten Brücke entfernt, 5 Minuten bis zum Institut, nicht weit vom Marktplatz und den wichtigsten Kneipen entfernt. So ziehe ich eine Woche später in 9 qm Historie ein. Die Wände sind feucht, die Decken niedrig, es ist dunkel, aber ich habe eine eigene Küche und außer Schnekken auch kein weiteres Ungeziefer. Die Miete ist sensationell niedrig, der Vermieter läßt sich nur ungern sehen und wir dürfen alles machen, was zur Verbesserung beiträgt. So organisiere ich als erstes eine Duschkabine und plaziere sie in der Ecke hinter dem Kamin in der Küche. Anfang Oktober ist mein neues Zuhause soweit eingerichtet und das Studium kann losgehen.

Auf einer Wahlparty, ja genau, Franz-Josef Strauss als Herausforderer gegen den Altoberlehrer Helmut Schmidt, gelingt es mir, völlig unauffällig ein Taxi für die Heimfahrt so zu bestellen, daß mein Schwarm des Abends kaum umhin kann, mitfahren zu wollen - daß sie nur eine Gasse weiter wohnt, habe ich vorher schon in Erfahrung gebracht. Die anschließenden Besuche und Gegenbesuche sollen mich die nächsten fünf Jahre in Atem halten, was ich - bei aller Vorraussschau - nicht hätte ahnen können.

Und ehe sich das historische Frühstück in Cambridge jährt, habe ich auch einen Brotberuf: Das kleine Programmkino auf dem Weg zum Institut, in dem schon meine Mutter zu ihrer Studentenzeit die Stars der Stummfilmzeit bewundert hat, sucht einen Vorführer - und für 7,53 Brutto sitze ich die nächsten zwei Jahre drei Abende pro Woche von acht bis eins im alten Vorführraum und lese und lerne und spiele Skat mit Freunden, wenn ich nicht gerade die beiden großen 'Nähmaschinen' füttern muß.

So haben sich denn, wie so oft, alle Ungewissheiten auf unbestimmte Zeit zumindest verflüchtigt und ich habe

home, hope and future

Im dritten Semester ist einer der Pflichtscheine der 'große Methodenschein'. Eine Arbeit gilt es zu schreiben und der Inhalt hat irgendwie auf statistischen Daten respektive deren Auswertung zu beruhen. Das bedeutet nicht nur statistische Methoden zu büffeln, sondern den auch Umgang mit einem Großrechner zu erlernen. Repräsentative Umfragen in der Soziologie haben immer um die 2000 Teilnehmer, da man dann bei einer rein zufälligen Auswahl eine Trefferwahrscheinlichkeit von mehr als 99% erhält, die Umfrage also für das ganze Land gültig ist. Und wenn 2000 Menschen 500 Fragen beantworten, dann kann man das halt nicht mehr vernünftig mit Bleistift und Papier auswerten. In der EDV-Station stehen einige merkwürdige Schreibpulte - die Lochkartenstanzer, hinter der Abschlußtür im Allerheiligsten dann die alte Dietz-Maschine in der Größe eines modernen Tiefkühlschrankes, nebendran der Lockartenleser und das Telefonmodem blinkt mit seinen roten Leuchtdioden geheimnisvoll vor sich hin.

Auf den Kartenstanzern schreiben wir - jede Zeile eine neue Lochkarte - sogenannte Jobs, also kleine Programme, die dem Großrechner der Universität mitteilen, was er für uns berechnen soll. Tippfehler sind besonders lästig, denn sie führen ohne Ausnahme dazu, daß der ganze Job nicht läuft. Da mit dem Einlesen und Warten auf die Rückmeldung des Groß- rechners immer etliche Minuten, manchmal sogar Stunden vergehen, ist der Frust, den ein Tippfehler auslöst, erheblich. Man kann die Lochkarten zwar Taste für Taste duplizieren, hat aber an der entscheidenden Stelle garantiert vergessen, was man sich immer schon mal merken wollte: steht der ungenau justierte Spaltenzeiger am Anfang VOR der ersten Spalte oder zwischen der ersten und zweiten? Murphy sorgt dafür, daß jedes Zusammenkratzen von Erinnerungsfetzen garantiert zum falsche Ergebnis führt, also Karte nochmal tippen. Hat man dann seinen Job beieinander, dann stapeln sich doch etliche fingerbreit hoch Lochkarten vor einem auf dem Tisch. Stapel heißt auf Englisch 'batch' und so heißen seit Beginn der Computerzeit Programme, die ohne weitere Eingriffsmöglichkeiten des Benutzers durchlaufen, 'batch jobs'. Ebenfalls mit den alten Lochkarten hängt der Begriff des 'bug' (Käfer) zusammen, der einen Fehler im Programm bezeichnet. Angeblich soll mal ein kleiner Käfer in eine Maschine geraten sein und eines der Stanzlöcher in einer Lochkarte blockiert und natürlich so einen Fehler verursachte haben. Seitdem sind Fehler 'BUGs' und die Fehlerbeseitung heißt 'Bugfixing'. Wir hatten leider jede Menge Gelegenheit zum 'Bugfixing', und, wie schon gesagt, ist das bei Lochkarten eine zeitraubende Beschäftigung. Kein Wunder, daß sich meine ohnehin nicht besonders gute Meinung von Computern durch diesen umständlichen Zugang nicht entscheidend verbesserte. Dafür war's aber immer lustig mit den Kommilitonen, den weiblichen mehr als den männlichen, denn die letzteren sahen das alles viel verbissener und wollten der Maschine um jeden Preis ihre Geheimnisse entlocken, während man mit den ersteren gemütlich Kaffee trinken konnte, während man auf die nächste Hiobsbotschaft aus dem Bauch des Rechners wartete.

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